Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

窮地 Kyūchi – Ratlosigkeit

Der Lord erhält Post aus England. Es scheinen keine besonders guten Nachrichten zu sein. Weitere Sorgenfalten gesellen sich den schon vorhandenen in seinem Antlitz. Der Lord hatte sich vor einiger Zeit ein neues Flugzeug, eine Junkers F13, gekauft, doch das gute Stück hatte ihm seinen Dienst verweigert. Beim Start zum ersten Probeflug von Highclere Castle aus kam es zu einem technischen Defekt, der nun behoben werden mussten. Das Schreiben, das ihn heute erreicht, informiert den Lord über den aktuellen Stand der Reperaturarbeiten. Die britischen Techniker berichten, dass sie das Flugzeug komplett auseinander nehmen mussten. Mycroft bricht ob dieser Nachricht in gehässiges Gelächter aus, doch auch diese aufgesetzte Schadenfreude kann über die insgesamt eher bedrückende Stimmung nicht hinweg täuschen.
“Was tun wir heute?”, fragt Dr. Monbardeau. Ratlosigkeit.
“Ich glaube ja, dass Maxime dahinter steckt”, flüstert Mycroft mir zu.
Ich schüttle den Kopf. “Ich glaube nicht, dass Maxime etwas vor uns zu verheimlichen sucht”, flüstere ich zurück. Senchō hat sich am vergangenen Sonntag lange und ausgiebig mit ihm unterhalten. Er hätte uns gesagt, wenn ihm derart etwas aufgefallen wäre.

Vielleicht können wir auf göttliche Hilfe hoffen. Nodens, sagt der Lord, der Herr des Abgrundes, sei uns auf irgendeine Weise wohlgesonnen. Er erzählt von einem Abenteuer im Servern Valley in Mittelengland, auf den Spuren des Wesens, dass sie Dr. Krebs nennen. Dort hatten sie die Kibbo Kift getroffen, eine Gruppe von Nodens-Anhängern, deren verborgene Tempel nur zu bestimmten Zeiten von bestimmten Leuten gefunden werden kann. Um den Ort zu betreten, gilt es zuvor eine Prüfung zu bestehen.

Nodens, von dem es in den Schriften des Mythos heißt, dass er als Freund und Beschützer der Abenteurer gelte, könne man vielleicht um Hilfe bitten, wenn die Sterne günstig stehen, wenn Orion und sein Hauptstern Rigel mit Saturn in Konjunktion eine Linie bildet. Der Käpt’n ist in ein Kreuzworträtsel aus der Zeitung vertieft und folgt unserer Unterhaltung nicht. “Senchō”, frage ich, “wann ist das nächste Datum, an dem Rigel in den Schatten von Saturn tritt?” Senchō überlegt einen Moment und scheint im Kopf ein paar Berechnungen durchzuführen. “In ca. 5 Wochen”, antwortet er dann, “plus/minus zwei Tagen.” Das ist zu lang. Soviel Zeit haben wir nicht, wenn wir unsere Freunde und Lady Evelyn lebendig zurückhaben wollen, falls sie überhaupt noch am Leben sind.

Mein Blick fällt auf ein Plakat, das heute morgen im Esszimmer aufgehängt wurde. Es ist die Ankündigung der Flugmesse am kommenden Wochenende in Paris, in deren Rahmen Mycroft sich für das Geschwindigkeitsrennen angemeldet hat. Es gibt auch einen Wettbewerb in der Kategorie Höhe. 50 Kilometer nach oben sind viel, aber vielleicht hat ja ein gewitzter Erfinder mit etwas aufzuwarten, das uns weiterhilft. Eine sehr kleine Hoffnung, aber immerhin. Ich teile meine Gedanken mit meinen Freunden, doch insbesondere der Lord scheint dieser Idee nicht viel abgewinnen zu können.

Ich fahre mit Senchō noch einmal die Gegend ab. Vielleicht haben wir etwas übersehen? Vielleicht gibt es doch irgendeine Möglichkeit, dieser Ohnmacht zu entkommen. Doch wir treffen nur einen Bauern, der um sein vermissten Schaf trauert. Am Abend kehren wir ohne neue Erkenntnisse zurück nach Mirastel. Mycroft und der Lord habe sich auch heute wieder dem Studium des Buches Tsathoggua gewidmet.

Beim Abendessen sprechen wir über Möglichkeiten, mit unseren entführten Freunden in Kontakt zu treten. Die Traumlande haben uns auch schon über größere Distanz den Kontakt zueinander ermöglicht. Zwar ist es keine sichere Methode, aber verlieren können wir dabei nichts, doch als ich zu Bett gehe, spüre ich, dass mein Kopf nicht frei ist und dass ich zu sehr damit befasst bin, etwas bestimmtes zu wollen. Ich versuche mich in Traummeditation, doch mein Ego ist zu dominant. Die Stimmen meiner Gedanken begleiten mich flüsternd in einen unruhigen Schlaf. ‚Du musst träumen. Du musst träumen!’ Schon während ich in das Reich des Schlafes hinübergleite, erkenne ich, dass sich der Zutritt in die Traumlande nicht erzwingen lässt und dass ich heute nicht im Verwunschenen Wald zu mir kommen werde.