Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

安全に (Anzen ni) – Außer Gefahr

Es ist bereits Mittag, als ich erwache. Unsere weiblichen Begleiter haben sich erholt. Man mag noch keine Höchstleistungen erwarten, doch nach eigener Aussage geht es ihnen besser. Sie wissen Bizarres zu berichten. Alle drei beschreiben, dass sie, als sie entführt würden, von etwas im Nacken gepackt und in die Höhe gerissen worden seien. Gleich darauf hatten sie sich in kubischen Gefängnissen mit unsichtbaren Wänden hoch über der Erde wiedergefunden. Ihre Entführer hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Wenn sie da waren, blieben sie ebenso unsichtbar wie die Wände ihrer Zellen. Carla-san, Mari-chan und Mare sahen sich dort oben seltsamen Experimenten ausgesetzt. Sie bekamen zu Essen, doch die Wahl der Verpflegung durch die “Versorger” gestaltete sich eher einseitig. Mare hatte es am besten getroffen. Ihr wurde der Obstkorb, den wir als Köder auf Mirastel ausgelegt hatten, in ihre Zelle gestellt. Mari-chan wurde mit Pilzen gefüttert, was sie auch ganz amüsant fand. Carla-san ist es nicht so gut ergangen. Mit zitternder Stimme erzählt sie, dass die Fremden ihr ein totes Kaninchen in die Zelle verbracht hatten. Ihr Hunger war irgendwann so groß, dass sie das Tier eigenhändig häutete, ausnahm und schließlich roh verspeiste. Als nächstes servierten sie ihr ein halbiertes Schaf, dass sie aber nicht anzurühren vermochte.

Immerhin wurden die Zellen gereinigt. Täglich zu unregelmäßigen Zeiten wurde Wasser die Zellenwände herabgelassen. Die Abwässer wurden durch ein ebenfalls unsichtbares System abgeleitet und vermutlich auf die Erde geschüttet. Das könnte eine Erklärung für das Phänomen des Blutregens sein. Auf diesem Weg war auch Carla-sans Nachricht zu uns gekommen. Sie hatte schätzungsweise zwanzig Botschaften der Art, welcher Senchō gestern morgen eine in der Rosenhecke gefunden hatte verfasst und durch das Reinigungssystem fortspülen lassen, in der Hoffnung, dass es eine der Nachrichten zu uns schafft.

Mari-chan wurde zudem mit diversem Zubehör bedacht. Die Fremden hatten ihr eine Mistgabel, ein Fahrrad und ein Segment eines Lattenzaunes in ihre Zelle gestellt. “Du hast nicht zufällig eine von diesen Latten beschrieben und wegspülen lassen?”, fragt Senchō. Mari-chan sieht ihn überrascht an. “Doch”, sagt sie, “woher weißt du das?” Sie versinkt für einen Moment in Grübeleien, dann scheint sie sich zu erinnern oder etwas wird ihr gerade klar. “Hat es etwa geklappt?”, fragt sie erstaunt.

So sehr es mich erleichtert, dass unsere Freunde weitgehend unversehrt von ihrem unfreiwilligen Ausflug zurückgekehrt sind, so unbefriedigt fühle ich mich ob der Tatsache, dass wir noch immer so wenig über diese Sache wissen. Wer sind die Entführer und was wollen sie hier? Sind sie jetzt fort und wenn ja, warum sind sie gegangen und werden sie wiederkommen? Wer sagt, dass derartiges nicht irgendwann irgendwo auf unserem Planeten wieder passieren kann? Mycroft spricht mir aus der Seele, als er ankündigt, dass er zurück nach Paris reisen und mehr über das geborgene abgestürzte Flugobjekt herausfinden will. Jean Le Tellier hat uns wissen lassen, dass es in eine Halle gebracht wurde, zu der wir jederzeit für eine Untersuchung Zugang hätten.

Ob Ermangelung eines einsatzbereiten Automobils nehmen wir den Zug nach Lyon. “Wenn wir in einer halben Stunde den nächsten Zug nach Paris nehmen, sind wir um 20:30 da”, erkläre ich dort angekommen, nachdem ich den Fahrplan studiert habe. “Nein”, wendet Mycroft ein, “ich miete uns ein Flugzeug. Damit sind wir viel schneller.”

Gesagt, getan. Wir begeben uns zum Aerodrom und Mycroft mietet dort eine Flugmaschine. Es ist ein französisches Modell. Wir steigen an Bord und lassen die Motoren starten. Mycroft scheint überhaupt nicht zu wissen, was zu tun ist. Normalerweise würde er jetzt auf die Startbahn zurollen, doch das Flugzeug bewegt sich genau in die andere Richtung.
“Was ist das für eine dämliche Konstruktion”, höre ich Mycroft fluchen. Vergebens versucht er den Vogel dazu zu bringen, zu tun, was er will, aber es gelingt ihm einfach nicht, die Maschine zu beherrschen. Er steuert sie direkt in ein Lagergebäude. Vielleicht hätte er die Einweisung in die Handhabung des Flugzeugs, die man uns freundlicherweise angeboten hatte, doch in Anspruch nehmen sollen.
“Zwei Maschinen in zwei Tagen”, sage ich, “dein Verschleiß an Flugzeugen steht deinem Verschleiß an Frauen in nichts nach.” Doch Mycroft ist nicht nach Scherzen zu Mute. Mürrisch betrachtet er das Dilemma, bei dem glücklicherweise niemand – außer vielleicht Mycrofts Stolz – verletzt wurde.

Das Gezeter des Flughafenpersonals ist groß. Mycroft versichert natürlich, dass er für den entstandenen Sachschaden aufkommen wird, doch es müssen eine Menge Formalitäten erledigt werden. Während Mycroft sich darum kümmert, gehe ich zurück zum Bahnhof und kaufe nun doch Fahrkarten für den Zug. Die nächste Verbindung besteht erst in knapp zwei Stunden um 16:00. Dieser Zug wird den Pariser Hauptbahnhof erst um halb elf heute Abend erreichen. Als Mycroft eine halbe Stunde später ankommt, hat sich seine Laune nur unwesentlich gebessert. Die Information, dass uns unsere nächste Reisemöglichkeit erst in anderthalb Stunden gegeben sein wird, macht es nicht besser. Nur allmählich findet er sich mit dieser unbequemen Situation ab, als aber schließlich unser Zug – immerhin pünktlich – einfährt, ist er schon wieder deutlich entspannter.

Wir vertreiben uns die Zugfahrt mit Mahjong und Go. Die Reise verläuft planmäßig, so dass wir gegen 23:00 unser Hotel erreichen. Wir lassen uns ein spätes Mahl auf das Zimmer bringen und lassen den Abend bei einem guten Gin ausklingen. Mycroft begibt sich gegen eins zu Bett, doch ich verspüre keine Müdigkeit. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, jetzt erst richtig wach zu werden. Dafür werde ich seit einiger Zeit tagsüber häufiger von einer gewissen Trägheit und Passivität heimgesucht.

Da ich noch nicht schlafen kann, vertreibe ich mir die Zeit mit etwas Sinnvollem. Ich betreibe Schwertkampfstudien. Ich versuche, den Katori-Stil, die Techniken der Schule, in der ich meine Kunst erlernt und in welcher ich auch meine Ausbilderberechtigung erhalten habe, mit den Techniken des Aiki Jujustsu, die ich in Ayabe unter Anleitung von Takeda-sensei und Meister Ueshiba studiert habe, zu kombinieren und in Einklang zu bringen. Und ich versuche noch etwas: ein stimmloses Kiai. Üblicherweise wird ein Schlag mit dem Schwert von einem kraftvollen Kampfschrei begleitet. Dieser dient nicht in erster Linie dazu, den Gegner einzuschüchtern – das ist nur ein hilfreicher Nebeneffekt – sondern dazu, die innere Spannung und Aufmerksamkeit nach einem Schlag aufrecht zu erhalten. Ich versuche nun diesen Effekt zu erzeugen, indem ich weniger meine Stimme als mehr meinen Atem einsetze. Es ist ungewohnt, anders, irgendwie noch nicht ganz rund, aber es scheint zu funktionieren. Ich übe voller Leidenschaft und merke gar nicht, wie die Zeit vergeht. Als ich schließlich meine Übungen beende, ist es bereits vier Uhr.