過客の歌 (Kakaku no Uta) – Der Reisenden Lied
Ich bin irgendwie nicht ganz bei der Sache, als wir am Vormittag das Gefängnis aufsuchen, in der Hoffnung, weitere Hinweise bezüglich der seltsamen Infektionskrankheit zu finden. Meine Gedanken driften irgendwo zwischen der Wachwelt und den Traumlanden und ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Meine Freunde sind dafür um so aufmerksamer und konzentrierter. Die Patienten, die durch das Virus gestorben sind, scheinen alle zuvor von Dr. Cullen behandelt oder untersucht worden sein. Der Verdacht eines Zusammenhangs erhärtet sich, als eine Ampulle gefunden wird, deren Inhalt den „Patienten“ verabreicht werden sollte. Tatsächlich wurden sie vergiftet. Es gibt kein Virus – demnach braucht es auch keinen Impfstoff. Aber wenn es kein Impfstoff war, den Dr. Cullen entwickelt hat – worauf war er dann aus? Es dürfte schwer werden, das herauszufinden, denn Dr. Cullen ist verschwunden. Er hat sich abgesetzt und vermutlich alle Beweise an seiner Beteiligung an dieser inszenierten Seuche vernichtet.
Während des Mittagessens überlegen wir weiter. Auch wenn Dr. Cullen vorerst das Handwerk gelegt werden konnte, so bleiben noch immer die Ghoule, die sich vermehrt in Glasgow aufhalten. Der Schlüssel ist wahrscheinlich das Buch, das in der Kathedrale schon seit Jahrhunderten gehütet wird und so begeben wir uns nach dem Mittagsmahl erneut zu Reverend Grimond. Als wir noch einmal nach dem Buch fragen und ob es möglich wäre, dieses zu sehen, bestätigt er dies zu unserer Überraschung. Vor zwei Tagen hatte er erklärt, dass das Buch behütet werden müsse, damit es nicht in falsche Hände gerät. Zu uns hat er aber offenbar genug Vertrauen.
Reverend Grimond führt uns in eine Privatkapelle in der Kathedrale. Dort liegt es, das Buch, hinter dem Garachar – aus welchen Gründen auch immer – her ist. Der Foliant ist in schwarzes Tierleder gebunden, womöglich aus der Haut einer Ziege. Henry fragt, ob wir einen Blick in das Buch werfen dürfen. Der Reverend gewährt uns diese Bitte. Die Seiten sind mit rostbrauner Tinte beschrieben worden – nein, keine Tinte, es ist Blut. Es steht auch noch irgendetwas in schwarzer Tinte geschrieben, doch darauf verwende ich keine Aufmerksamkeit. Mich interessiert die Seele dieses Buches. Ich schiebe Henry, der noch vor dem Buch steht, sanft zur Seite.
„Lass mich mal“, ist alles, was ich als Erklärung äußere. Henry quittiert das mit einem verdutzt-besorgten Blick, doch das hält mich nicht auf.
Die Schrift, obwohl sie mir fremd ist, fühlt sich auf ungewohnte Art und Weise auch irgendwie vertraut an. Die Zeichen formen Worte, die in meinem Geiste widerhallen und dort Bedeutung erlangen. Es ist die Sprache der Ghoule, in der dieses Buch geschrieben wurde, und es erzählt von ihnen und ihrem Dasein. Im Dienste keiner Gottheit stehend, sind sie unabhängige Wandler zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, der Wachenden und der Träumenden.
Ich lese weiter, vergesse alles um mich herum und tauche in den Mythos ein, den ich entschieden habe, zu meinem eigenen machen zu wollen. Das Buch erzählt von Ägypten. Dort scheinen sie einst sehr einflussreich gewesen zu sein, doch ob der fremden Sprache erschließt sich mir der Zusammenhang hier nicht vollständig.
Ich lese weiter, überfliege einzelne Kapitel, um mir einen Überblick zu verschaffen, ob es in diesem Buch auch etwas gibt, dass uns bei unserer derzeitigen Aufgabe helfen kann. Ich stoße auf viele interessante Dinge, so wird in einem Kapitel beschrieben, wie man physisch von jedem Ort in der Wachwelt an jeden Ort in den Traumlanden reisen kann und umgekehrt, doch das näher zu betrachten, dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich suche weiter und finde ein weiteres Kapitel. Dies scheint das richtige zu sein. Es ist überschrieben mit einem Titel, der übersetzt etwa soviel bedeutet wie „Der Reisenden Lied“, ein uraltes Heimatlied, das das Heimweh, die Sehnsucht nach den Traumlanden, bei allen Ghoulen in einem gewissen Umkreis weckt, und ihnen einen Weg nach Hause offenbart. Das ist es, der Weg, um Garachar und seine Getreuen nach Hause zu schicken.
Das Lied muss um Mitternacht unter freiem Himmel dargebracht werden. Schlag Mitternacht muss es beginnen und zwölft Minuten lag ohne Unterbrechung wiederholt werden. Ich studiere und verinnerliche die Worte:
UHHRKURG GIRREGGAH WUUL GIRREGGAH
RHARRERRA FUUHRUGG GRAOWGACHAR
GUR KURREG GUR KURREG CHRACH OORECH
HRI UR FECHECH HOWUUFF GRIGORR AGHOURR
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, seit ich angefangen habe, in dem Buch zu lesen, aber es dürften schon einige Stunden gewesen sein. Henry ist noch immer mit mir in der Privatkapelle und beobachtet mich mit Argusaugen.
„Ich habe eine Lösung“, erkläre ich ihm, während ich das Buch langsam und bedächtig schließe. Ich hoffe, ich werde es noch weiter studieren können, „wo sind die anderen?“
Wir treffen sie im Grand Central. Auf dem Weg dahin wiederhole ich ständig im Geiste das ghoulische Heimatlied, damit es mir nicht entfallen möge.
Es ist zehn Uhr am Abend. Ich berichte meinen Freunden von dem Lied und erkläre, wie ich damit den Ghoulen den Weg in ihre Heimat zeigen kann. Doch Garachar wird sich das nicht gefallen lassen wollen und mit Sicherheit werden er und seine Untergebenen versuchen, das Ritual zu unterbrechen. Der Zauber benötigt viel Energie, mehr, als das, über das ich selbst verfüge, doch zum Glück geht es Carla etwas besser. Mit Hilfe ihrer Fähigkeit, magische Energie von einer Person auf sich selbst und von sich auf eine weitere Person zu übertragen, bündeln wir die vorhandenen Ressourcen so, dass nur Carla und ich uns energetisch für dieses Ritual einsetzen müssen. Den anderen obliegt es, uns den Rücken frei zu halten.
Ich bringe Carla das Lied bei, denn singen müssen wir es gemeinsam. Wir wollen das Ritual in der Mitte der Bridge of Sighs, der Seufzerbrücke, abhalten, und hoffen, dass der Umkreis, den wir mit dem Zauber ausfüllen, groß genug sein wird. Mit dem Material, das Mare gestern für die Snackbeschaffung organisiert hat, darunter auch starke Lampen und Leuchtmittel, schafft sie uns eine in alle Richtungen gut einsehbare Verteidigungsposition. Zehn Minuten vor zwölf ist alles vorbereitet. Ich knie in der Mitte der Brücke im Fersensitz und meditiere. Im Schatten der Grabsteine registriere ich eine schwarze Katze, die fauchend und buckelnd in meine Richtung starrt. Oh ja, ich wusste, dass sie es mir verübeln würde, wenn ich mich auf diese Weise dem mir von ihr vorgesehenen Weg entziehe. Ein Ghoul kann kein Samurai der Königin der Nacht sein. Doch das ist mir egal. Ich fürchte mich nicht vor den Konsequenzen. Ich versenke mich tiefer, spüre die Präsenz der Ghoule, die nervös im Schatten lauern.
Die Glocke der Kathedrale schlägt Mitternacht. Ich beginne gemeinsam mit Carla das Lied zu singen:
„UHHRKURG GIRREGGAH WUUL GIRREGGAH…“.
Die Worte sind stark und bedeutsam. Ich spüre die Sehnsucht, das Heimweh, die sie tragen, auch in mir. In den Schatten werden Bewegungen erkennbar.
„RHARRERRA FUUHRUGG GRAOWGACHAR…“
Eine schwach bläulich leuchtende Kuppel mit mir und Carla als Zentrum, entsteht und beginnt sich langsam aber stetig auszudehnen. Die ersten Ghoule nähern sich.
„GUR KURREG GUR KURREG CHRACH OORECH…“
Ich kann ihre Verwirrung wahrnehmen. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Sie wollen kämpfen für ihren Anführer Garachar, hier an diesem Ort und gleichzeitig beginnt sie mein Lied nach Hause zu rufen. Die Magie ist noch schwach, sie muss sich erst entfalten, und Garachars Dominanz beherrscht noch ihr Handeln.
„HRI UR FECHECH HOWUUFF GRIGORR AGHOURR…“
Ich höre Schüsse. Aus dem Augenwinkel registriere ich, wie die ersten
Ghoule zum Angriff übergehen. Meine Freunde verteidigen sich leidlich.
„UHHRKURG GIRREGGAH WUUL GIRREGGAH…“
Auch wenn es mir in den Fingern juckt, ich unterdrücke meinen Kampfgeist. Ich will diesen Geschöpfen nicht schaden. Ich will sie befreien.
„RHARRERRA FUUHRUGG GRAOWGACHAR…“
Der Lord ringt mit einem Ghoul im Nahkampf. Er rammt ihm zwei seiner Wurfmesser in den Hals, doch der Ghoul zeigt sich nur mäßig beeindruckt. Ein weiterer Ghoul springt aus der Dunkelheit auf den Lord zu, doch Mare wirft sich mutig dazwischen. Ich muss mich weiter auf das Lied konzentrieren!
„GUR KURREG GUR KURREG CHRACH OORECH…“
Ich schließe die Augen. Ich fokussiere mich auf mein Inneres und das Lied. Die Traumlande… Sie rufen… Sie rufen euch nach Hause… Sie rufen … Sie rufen uns… Sie rufen mich …
„HRI UR FECHECH HOWUUFF GRIGORR AGHOURR…“
Ich spüre den Boden leicht erzittern. Schwere Schritte nähern sich. „Garachar, Garachar, Garachar“.
Von rhythmischem Stampfen und Rufen begeleitet heißen die Ghoule ihren Anführer willkommen. Ich spüre seine Präsenz und ich weiß, dass er auch meine spürt.
„UHHRKURG GIRREGGAH WUUL GIRREGGAH…“
Ich intoniere mit mehr Inbrunst, lege mehr Kraft in meine Stimme. Kehre heim, Garachar, du gehörst hier nicht her…
Doch er ist anderer Meinung. Er will zu mir vordringen, doch ich vertraue meinen Freunden. Sie werden ihn aufhalten.
„RHARRERRA FUUHRUGG GRAOWGACHAR…“
Schüsse, dass Klirren von Messern und Säbeln, Fauchen und Knurren und das unbändige und bedrohliche Brüllen Garachars. Er ist verletzt und das macht ihn nur noch wütender.
„GUR KURREG GUR KURREG CHRACH OORECH…“
Garachar brüllt wütend auf. Ich habe das Gefühl, dass er direkt vor mir steht und mich jeden Moment erschlagen wird, doch dann ist er plötzlich still.
„HRI UR FECHECH HOWUUFF GRIGORR AGHOURR…“
Ein letztes Stöhnen entweicht Garachars Kehle. Ich öffne langsam die Augen, während ich weitersinge.
„UHHRKURG GIRREGGAH WUUL GIRREGGAH…“
Garachar liegt am Boden und haucht sein untotes Dasein aus. Die anderen Ghoule sind nun vollkommen verunsichert. Winselnd und fiepend ziehen sie sich in die dunkleren Ecken des Friedhofs zurück.
„RHARRERRA FUUHRUGG GRAOWGACHAR…“
Ich singe weiter, die Kuppel aus blauem Licht dehnt sich immer weiter aus. Meine Freunde versorgen ihre Verletzungen.
„GUR KURREG GUR KURREG CHRACH OORECH…“
Je länger ich singe, desto mehr fühle ich, wie die Ghoule ruhiger werden. Sie spüren, dass etwas für sie Gutes passieren wird. Als die zwölf Minuten um sind, die es braucht, damit die Magie dieses Liedes ihre volle Wirkung entfalten kann, singe ich die letzte Zeile ein letztes Mal:
„HRI UR FECHECH HOWUUFF GRIGORR AGHOURR…“
Die Lichtkuppel fällt in Sekundenschnelle in sich zusammen, als ich den Gesang beende. Ich spüre, wie alle Ghoule, die sich innerhalb dieser Kuppel aufhielten, dem Licht, das in die Welten zwischen Leben und Tod entschwindet, folgen und die physische Existenzebene der Wachwelt verlassen. Ich würde ihnen gerne folgen, doch dafür ist es noch nicht die rechte Zeit.
Ich atme ruhig und bin zutiefst entspannt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so ausgeglichen gefühlt habe, wie in diesem Moment. Ich bin auf dem richtigen Weg, ein Reisender, der nach vielen Irrwegen endlich einen Weg nach Hause gefunden hat.
Die Ghoule sind heim gekehrt, aber der Preis war hoch. Kaum, dass wir das Lied beendet haben, bricht Carla vor Erschöpfung zusammen. Mare, die selbst aus einigen Wunden blutet, verabreicht dem Lord, der aus der Kehle blutend am Boden liegt, ihre Granulatmischung, um ihn zu stabilisieren und sein Leben zu retten. Henry und Cyril stehen noch einigermaßen stabil, aber auch ihnen ist die Erschöpfung anzusehen. Carla kommt nach einer Weile wieder zu sich.
Um uns herum liegen sieben abgeschlachtete Ghoule und direkt vor mir, keine fünf Meter entfernt, der Leib ihres Anführers Garachar. Langsam bewege ich mich auf den Leichnam zu. Als ich über ihm stehe, betrachte ich ihn eingängig. Da liegt er vor mir – ein großer, alter Krieger. Fast bedaure ich, dass nicht ich es war, dem die Ehre zuteil wurde, ihn zu erschlagen, aber man kann nicht alles haben.
Ehrfürchtig knie ich neben ihm nieder.
„GHUREK TORGH CHREKTHAK SUGRTOAH„, murmle ich, bevor ich mein Shōtō ziehe, um ihm damit die Brust zu öffnen und sein Herz heraus zu nehmen. Der Muskel ist noch warm, doch sein Pulsieren ist bereits erloschen. Doch das mindert nicht meinen Appetit. Garachars Blut fließt sanft und warm meine Kehle hinunter, als ich einen mundgerechten Happen abgebissen habe, den ich mir nun genüsslich auf der Zunge zergehen lasse.
„Sanjūrō?“, meine Freunde warten auf mich. Sie wollen den Lord ins Krankenhaus bringen und dann zurück ins Hotel kehren.
„Ja, ich komme“, erwidere ich, befreie mein Schwert, meine Hände und meine Mundwinkel von den Ghoulblutresten und eile dann meinen Freunden zu.
Der Lord ist in einem kritischen Zustand. Sein Arm und sein Hals sind heftig von Ghoulbissen in Mitleidenschaft gezogen worden. Mares Schnittverletzungen werden auch versorgt.
Schnittverletzungen? Ich frage mich, wie es dazu gekommen ist. Die Ghoule, die uns angegriffen haben, hatten weder Schwerter noch Messer. Es gibt eigentlich nur zwei mögliche Erklärungen: entweder Mare hat sich selbst mit ihrem Säbel verletzt, oder aber die Wurfmesser des Lord haben sich in ihrem Ziel geirrt. Die Art der Verletzung lässt eher auf Letzteres schließen.