Auf Cthulhus Spur

Gepflegtes Rollenspiel rund um den kriechenden Wahnsinn

堅い決心 (Katai Kesshin) – Ein fester Entschluss

Als ich heute morgen das erste Mal wach geworden bin, fing es gerade an zu dämmern. Ich habe mich auf die andere Seite gedreht und mir vorgenommen, noch ein oder zwei weitere Stunden zu schlafen. Dann sind es aber deutlich mehr geworden. Es ist bereits Mittagszeit und ich bin immer noch müde. Ich nehme im Speisesaal mein Mittagessen ein und lasse auch den Nachmittag ruhig angehen. Außer auf die Rückkehr des Lords und des Majors zu warten, bleibt im Moment ohnehin nicht viel zu tun.

Pünktlich zum 5 o‘clock tea, wie es sich für einen ordentlichen Briten gehört, treffen sie dann auch ein. Das Bild ist sicher in Glasgow gelandet. Dem Besuch bei Pickman steht also nichts mehr im Wege, abgesehen von der Tatsache, dass er uns das letzte Mal darauf hingewiesen hat, nicht mit leeren Händen zu kommen.

Mare hat bereits eine Liste mit Ausrüstungsgegenständen verfasst, die sie zu benötigen glaubt, um die Snacks für Pickman aus dem Frachtraum des Geisterschiffes zu besorgen. Zusammen mit Henry und Cyril bricht sie auf, um die Dinge von der Liste einzukaufen. Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, Teile von den Leichen auf dem Schiff Pickman als Gastgeschenk mitzubringen. Das Fleisch gammelt bereits seit zwei Wochen vor sich hin. So etwas bietet man eigentlich nicht als Gastgeschenk an. Alternativen habe ich allerdings auch keine. Anderseits heißt es in den Geschichten, dass Ghoule Leichen auf Friedhöfen ausgraben würden, um diese zu verspeisen. Möglich, dass auch gerade die fortschreitende Verwesung dem Fleisch erst eine besonders schmackhafte Note verleiht.

Nach einer Stunde kommen die Einkäufer schwer beladen zurück. Mare konfrontiert mich mit einer Aufgabe, die ich übernehmen soll. Sie möchte, dass ich, während sie und Cyril die Snacks besorgen, vor dem Lagerraum Schmiere stehe, wozu ich überhaupt keine Lust habe.
„Wenn ich das machen soll, gehe ich aber nicht durch das Bild“, erkläre ich in der Hoffnung, dass ich um die mir von Mare zugedachte Aufgabe herum komme. Das funktioniert. Sofort bietet Henry an, den Wachposten zu übernehmen. Er scheint zu glauben, dass es wichtig wäre, dass ich dabei bin, wenn einige von uns Pickman aufsuchen und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er mit dieser Ahnung Recht hat.

Gegen 20:00 Uhr sind sie zurück. Mares geölter Seesack in Blau ist gefüllt. Die Mission war offenbar erfolgreich. In der Suite des Lords wird das Bild „Dämmerung über Halifax“, zunächst mit einem Laken verhangen, aufgebaut. Das Schutzband von Henry wird darum herum ausgelegt. Mare und ich machen es uns, ausgestattet mit allem möglichen magischen Schutz, auf dem Bett bequem. Henry und der Lord lüften das Laken und der Blick auf die unheimlich wirkende Szenerie der speisenden Ghoule auf dem Friedhof von Halifax wird frei. Das Bild entfaltet seine Magie und zieht mich in seinen Bann.

Kurz darauf finde ich mich auf dem Friedhof im abendlichen Zwielicht wieder. Auf der Straße neben dem Friedhof entschwinden gerade der Lord, Mycroft und ihre Begleiter aus dem Sichtfeld. Etwa einhundert Meter vor uns kauert eine kleine Gruppe speisender Ghoule. Das Henkelkreuz fest umklammert nähere ich mich ihnen normalen Schrittes. Mare ist mir auf den Fersen. Als wir uns der Gruppe bis auf etwa dreißig Meter genähert haben, werden wir bemerkt. Der Ghoul, der uns am nächsten ist, bleckt sein Gebiss und faucht uns an. Ich halte das Henkelkreuz vor mich.

„Was wollt ihr? Ihr gehört hier nicht her“, zischt er knurrend.
„Kannst du mich zu Pickman bringen?“, frage ich. Der Ghoul schwarwenzelt witternd um mich herum.
„Wir haben Snacks dabei“, erkläre ich.
„Na schön“, erwidert der Ghoul, „kommt mit.“

Er führt uns zu der Gruft, die den Zugang zu Pickmans unterirdischem Wohnsitz darstellt. Wir klettern durch den Sarg die steile, baufällige Steinstiege hinunter und stehen schließlich in der Höhle, in der Pickman seine Werke aufgehängt hat und wo sich der Eingang zu seiner Behausung befindet.
„Pickman, Besuch für dich“, bellt der Ghoul. Kurz darauf erscheint Pickman selbst in der Tür.

„Ihr schon wieder“, knurrt er genervt, „was wollt ihr?“
Ich verbeuge mich und übernehme das Wort.
„Wir sind hier, um Sie um Ihren Rat zu ersuchen, Mr. Pickman“, antworte ich. Pickman schaut mich prüfend an, sagt aber nichts.
„Wir haben Snacks mitgebracht“, fahre ich fort und deute auf Mare.
Pickmans Mine hellt sich sichtbar auf.
„Oh, das ist überaus aufmerksam“, meint er deutlich milder, während er Mare von oben bis unten ausgiebig mustert und sich dabei die Lippen leckt.
„Eine gute Wahl“, meint er, „so jung und noch ganz frisch…“

„Ähm…“, werfe ich ein, als ich erkenne, dass Pickman mich missverstanden hat, doch dann halte ich inne. Ich kann plötzlich Pickmans ungewöhnlichen Appetit nachempfinden und wenn ich mir Mare so ansehe, ich finde sie auch gerade buchstäblich zum Anbeißen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Appetit auf Menschenfleisch verspüre. In den letzten Monaten, seit ich Pickman das erste Mal besucht habe, kam das schon häufiger vor doch heute ist es das erste Mal, dass ich ob dieser Vorstellung keine Schuld oder Abscheu gegen mich selbst empfinde. Anfangs war es nur ein flüchtiger Gedanke, den ich schnell weggedrückt habe. ,Sowas geht doch nicht. Das ist unmoralisch‘, hatte mein Gewissen mir geraten, doch mit der Zeit ist es immer stiller geworden. Der einst flüchtige Gedanke wurde zu einer Idee und diese Idee zu einer Sehnsucht und mit dieser einhergehend wuchs mein ungewöhnlicher Appetit.
Ich wechsle meinen Blick zwischen Mare und Pickman.
„Da liegt ein Missverständnis vor. Sie ist nicht das Gastgeschenk, sie trägt die Snacks bei sich.“

Selbst wenn ich Mare Pickman jetzt als Geschenk anbieten würde – für einen kurzen Moment denke ich tatsächlich konkreter über diese Idee nach – sie müsste nur aufwachen um der Gefahr zu entkommen. Pickman würde mir das sicherlich sehr übel nehmen und mich möglicherweise für einen Betrüger halten. Das ist keine Option, daher verwerfe ich diesen Gedanken schnell wieder.
„Hm…“, raunt Pickman. Er wirkt etwas enttäuscht, „na gut. Kommen Sie herein und lassen Sie uns unter vier Augen weiter sprechen.“ Er bellt und knurrt etwas in Richtung einiger Ghoule, die hier um sein Haus herumlungern. Die Kreaturen folgen seinem Ruf und bauen sich bedrohlich um Mare herum auf. Mare sieht mich hilfesuchend an. Ich nicke ihr aufmunternd zu und folge Pickman in seine Behausung.
„Nun, wie kann ich Ihnen helfen“, fragt Pickman. Tee bietet er mir heute nicht an.
„Konkret habe ich ein paar Fragen an Sie. Wie es aussieht, gibt es in der Wachwelt so etwas wie eine Ghoulplage.“
„Eine Ghoulplage“, wiederholt Pickman verwundert, „es ist nicht ihre Art, ohne Not ihre angestammten Gebiete zu verlassen. Sicher wagen sich Einzelne allein oder in kleinen Gruppen in die Welt der Menschen, aber nicht in dem Maße, dass von einer ‚Plage‘ die Rede sein könnte. Die meisten leben ein einfaches Leben in schlichten Gesellschaftsstrukturen und sind damit zufrieden, zu Fressen und durch die Gänge zu wandern.“

„Was könnte sie dazu treiben, in so großer Zahl an die Oberfläche in der Wachwelt zu ströhmen?“, frage ich weiter.
„Vielleicht folgen sie einem mächtigen Anführer“, mutmaßt Pickman.
„Ist das üblich? Das Ghoule einem Anführer folgen?“, frage ich weiter.
„Das kommt selten vor“, antwortet Pickman.
„Aber Sie haben doch auch ihre Untergebenen“, wende ich ein.
Fast meine ich ein amüsiertes Lächeln auf Pickmans Gesicht zu erkennen.
„Sie sind keine Untergebenen. Sie sind aus freien Stücken hier und sie sind frei zu gehen, wenn es ihnen nicht gefällt. Sie folgen mir nicht wegen meiner Macht, sondern wegen meiner Erfahrung und meines Wissens.“
„Die Ghoule, die sich in Massen auf der Oberfläche ausbreiten, sind scheinbar sehr interessiert daran, an einem magischen Buch, das in einer Kathedrale verwahrt wird, in ihren Besitz zu bringen.“
Pickman legt interessiert den Kopf schräg. Freudige Überraschung spiegelt sich auf seinen Gesichtszügen. Die Kunde von dem Buch scheint ihn zu beschwingen.
„Welche Stadt ist es, in der das Buch sich befindet?“, fragt er weiter.
„Glasgow“, antworte ich ohne zu Zögern.
„Ich weiß darüber nichts“, antwortet er nach einer Weile und das wirkt ehrlich auf mich, „über diese Ghoulplage, von der Sie sprechen, ich habe aber eine Vermutung. Es gibt einen Ghoul, einen alten und mächtigen Ghoul, der auch einst im Dienste des Nefren Ka stand. Er könnte dahinter stecken. Sein Name ist Garachar. Ob und wie Sie ihn aber überreden könne, seine Sachen zu packen und zusammen mit seinen Anhängern wieder nach Hause zu gehen, müssen Sie leider selbst herausfinden. Das übersteigt mein Wissen.“
„Danke, Mr. Pickman, Sie haben mir schon sehr geholfen“, erwidere ich.
„Gut, das freut mich“, sagt Pickman, „gibt es sonst noch etwas, das Sie wissen möchten?“

Das gibt es. Seit wir heute hier bei Pickman angekommen sind, beschäftigt mich diese Frage und sie lässt mich nicht mehr los. Ich halte einen Moment inne, bevor ich antworte.
„Ja, in der Tat, aber es ist etwas Persönliches.“
„Nur zu. Ich werde Sie schon in die Schranken weisen, wenn Sie zu weit gehen“, scherzt er und bleckt dabei sein scharfes und spitzes Gebiss.
„Ich möchte sehr viel wissen“, antworte ich, „aber fürs Erste möchte ich von Ihnen wissen, ob und ggf. wie ich selbst ein Ghoul werden kann.“

Pickman schaut mich verdutzt an. Mit so einer Frage scheint er nicht gerechnet zu haben, aber er scheint diese Frage nicht als anmaßend zu empfinden. Wortlos verschwindet er in seine Küche. Ich bin etwas angespannt, nein, eigentlich sogar sehr. Ich weiß nicht genau, was jetzt auf mich zukommt, aber meine Frage war nicht nur einfach so in den Raum gestellt. Nach allem, was mir in den letzten Monaten so begegnet ist, die Feinde, die ich mir gemacht habe, mein Wunsch, einfach zu verschwinden und irgendwo ein neues Leben anzufangen – all die Ängste und Sorgen, die mich nicht loslassen – all das zu bewältigen scheint in erreichbare Nähe zu rücken. Als ich Pickman in der Küche die Messer wetzen höre, wird mir für einen Moment schon etwas mulmig, doch dann kommt er mit zwei dampfenden Schüsseln zurück. Es riecht köstlich.
„Lassen Sie es ich munden“, ersucht mich Pickman.
Die Schüsseln sind mit etwas gefüllt, dass mich in seiner Erscheinung und Konsistenz an Ramen erinnert, geschmacklich aber alles, was mir auf kulinarischer Ebene je begegnet ist, vollkommen übertrifft. Ich bin überwältigt von dieser lukullischen Kreation und es schockiert mich in nicht im Geringsten, als ich erkenne, dass das, was ich für dicke Nudeln gehalten habe, würzig geröstete menschliche Finger sind.
„Hat es Ihnen geschmeckt?“, fragt Pickman, als ich die Schüssel geleert habe.
„Ausgezeichnet. Vielen Dank“, antworte ich.
„Das ist der Anfang“, meint Pickman, „aber jetzt sollten wir vielleicht langsam zu Ihrer kleinen Freundin zurückkehren.“
Ich stimme dem zu.

Mare wird noch immer von einem Dutzend Ghoule umlauert. Als Pickman vor die Tür tritt, knurrt er sie scharf an und sie trollen sich von dannen. Mir drückt er eine Rolle aus Leinwand oder einem hellen Leder in die Hand.
„Wenn Sie mich irgendwann einmal alleine besuchen kommen möchten“, erklärt er dazu.
Es ist ein Gemälde, nicht einmal dreißig Zentimeter im Quadrat, das den Eingang zu Pickmans Wohnstätte darstellt. Es wirkt überaus realistisch, ganz wie die Werke seines Schülers. Ich wundere mich, wie er so ein Bild in wenigen Minuten herstellen konnte. Er ist eben auf seinem Gebiet ei wahrhaftiges Genie.
„Vielen Dank, Mr. Pickman“, antworte ich und verberge das Kunstwerk unter meiner Robe.

Mare hat noch den Seesack mit den Leichenstücken bei sich.
„Was ist damit?“, fragt sie und hält den Seesack vor sich. Pickman nimmt ihn an sich, öffnet ihn, schaut hinein,
rümpft die Nase und meint dann: „Als Suppenknochen werden die noch taugen.“ Dann empfiehlt er sich und kehrt mit dem Seesack in seiner Hand zurück in seine Behausung. Das Bild unter meiner Robe fühlt sich warm und anschmiegsam an. Mares Gestalt beginnt neben mir zu verblassen, Ich verweile noch einen kurzen Moment länger, bevor auch ich mich entschließe, aufzuwachen. Ich atme tief und ruhig. Ich bin bei mir – ganz und gar.

Meine Freunde sind natürlich ganz erpicht darauf zu vernehmen, was wir bei Pickman in Erfahrung bringen konnten. Ich berichte, dass Pickman mit den Ghouls hier in Glasgow nichts zu tun hat, dass Pickman aber den Verdacht hegt, dass ein Ghoul namens Garachar die hierher expandierende Ghoul-Kolonie anführt.

Später sitze ich sinnend am offenen Fenster meines Hotelzimmers. Mir geht es gut, so gut, wie schon lange nicht mehr. Seit ich aus Japan aufgebrochen bin, um mit Mycroft und seinen Freunden Abenteuer zu erleben, bin ich nicht nur immer mehr zwischen die Fronten außerirdischer Mächte, sondern auch in die Schusslinie okkulter Untergrundorganisationen geraten. Ich hatte immer öfter das Gefühl, dass mein Leben sich meiner Kontrolle entzieht, dass andere für mich entscheiden oder mich zu einer Entscheidung drängen. Heute bei Pickman war das anders. Es war eine Entscheidung aus freiem Willen, ein Entschluss aus tiefstem Herzen. Die Traumlande, die Heimat der Ghoule, haben es mir von Anfang an sehr angetan. Vielleicht spüre ich daher diese tiefe Verbundenheit mit diesen Geschöpfen und Pickman.


Sicher, es werden einige Veränderungen auf mich zukommen. Allem voran werden sich meine Ernährungsgewohnheiten ändern, was die Problematik der Nahrungsbeschaffung nach sich zieht. Das ist etwas, über das ich mir zeitnah Gedanken machen muss.
Und dann wäre da noch meine Freunde. Ich werde sie so lange wie möglich mit der Erkenntnis verschonen, dass ich mich in einen Ghoul verwandeln werde, aber sie werden früher oder später Verdacht schöpfen. Spätestens wenn sich auch äußerlich sichtbare Veränderungen meines Körpers einstellen, werde ich das nicht mehr verheimlichen können. Aber das wird nicht heute oder morgen passieren.